AMB 2016, 50, 43
Vitamin D (VD) und seine Metaboliten sind für die intestinale Kalzium-Resorption und den Knochenstoffwechsel wichtig (vgl. 1). Sie sind auch an vielen Stoffwechselvorgängen, einschließlich dem Gefäß- und Immunsystem beteiligt (vgl. 2). Außerdem erhöht VD die Muskelkraft über spezifische VD-Rezeptoren. Ältere Menschen mit VD-Mangel neigen zu Stürzen, und eine VD-Substitution vermindert das Sturzrisiko bei Bewohnern von Pflegeeinrichtungen (3). CME Punkte für Ärztliche Fortbildung
Nach einer Metaanalyse aus dem Jahre 2009 (4) senken VD-Dosen zwischen 700-1000 IE/d die Sturzwahrscheinlichkeit um etwa 20%. Wir kamen daher zu dem Schluss, dass nach Ausschluss einer Hyperkalziämie und anderer Kontraindikationen Risikopatienten (Heimbewohner, geringe Sonnenexposition oder geringe VD-Aufnahme mit der Nahrung) die Einnahme von 800-1000 IE VD/d empfohlen werden kann (5). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Stürze – speziell im Alter – sehr viele andere Ursachen haben können, wie z.B. Multimedikation, Schwindel, schlechter Visus, schlechte Lichtverhältnisse, ungünstige Bodenbeschaffenheit (Stolperfallen). Ein VD-Mangel mit Myopathie und dadurch bedingte Schwäche der proximalen Beinmuskulatur mit höherem Sturzrisiko ist eine sehr seltene Ursache. CME Punkte für Ärzte In der täglichen Praxis hat sich die VD-Substitution mit und ohne Messung der 25-Hydroxy-VD-Konzentrationen (25(OH)D = Calcifediol) mittlerweile breit und unkritisch durchgesetzt, ja ist geradezu zum Hype geworden (vgl. 6). Auch Nicht-Risiko-Patienten wird von gutmeinenden Experten und Naturheilkundlern das „Sonnenhormon“ empfohlen: „Täglich Vitamin D, spätestens ab 60 Jahre“ (7). Dabei vertraut man wohl auf die Unschädlichkeit. Dieser Eindruck täuscht vermutlich. Die Arbeitsgruppe aus Zürich mit Autoren der zitierten Metaanalyse von 2009 (4) hat nun eine einjährige randomisierte kontrollierte Studie (RCT) mit nicht in Pflegeheimen lebenden, älteren Menschen und drei verschiedenen VD-Dosierungen durchgeführt (8). Hierzu wurden über Zeitungsinserate selbstständig lebende Menschen ≥ 70 Jahre und einem Sturz innerhalb des vorangegangenen Jahres gesucht. Von 463 gescreenten Personen wurden 200 eingeschlossen. Diese mussten mit oder ohne Gehhilfe mobil und in der Lage sein, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Es erfolgte eine Randomisierung in drei Gruppen: Kontroll-Gruppe mit 24.000 IE VD3 einmal pro Monat (Tagesdosis 800 IE/d, entsprechend den aktuellen Empfehlungen; n = 67); Hochdosis-Gruppe mit 60.000 IE VD3 einmal pro Monat (Tagesdosis 2000 IE/d; n = 67); und Kombinations-Gruppe mit einmal im Monat 24.000 IE VD3 plus 300 μg Calcifediol, dem 2-3mal potenteren Metaboliten und der Transportform von VD3 (n = 66). Die Teilnehmer wurden ein Jahr lang nachbeobachtet und dreimalig untersucht: zu Beginn, nach 6 und 12 Monaten. Dazu kamen Blutuntersuchungen: Kalzium, Kreatinin, 25(OH)D und Parathormon. Primärer Studienendpunkt war die Muskelkraft in den Beinen. Diese wurde bei den Visiten durch verblindete Physiotherapeuten mittels verschiedener Funktionstests untersucht. Wichtig war dabei der Short Physical Performance Battery Test (SPBB). Dieser misst die Gehgeschwindigkeit, die Fähigkeit wiederholt aus einem Stuhl ohne Hilfe der Arme aufzustehen und die Balancefähigkeit (9). Sekundärer Endpunkt war u.a. die Häufigkeit von Stürzen. DER ARZNEIMITTELBRIEF unabhängige Arzneimittelinformation Ergebnisse: Das mittlere Alter der Probanden betrug 78 Jahre. 67% waren Frauen und 58% hatten initial definitionsgemäß einen VD-Mangel, d.h. die 25(OH)D-Serumkonzentration betrug ≤ 20 ng/ml = ≤ 50 nmol/l; vgl. 2, 10). Nach einem Jahr Behandlung waren die 25(OH)D-Konzentrationen in der Kontroll-Gruppe um durchschnittlich 11,7 ng/ml angestiegen, in der Hochdosis-Gruppe um 19,2 ng/ml und in der Kombinations-Gruppe um 25,8 ng/ml. Der Anteil der Probanden, die nach einem Jahr einen 25(OH)D-Serumspiegel ≥ 30 ng/ml hatten (sog. Vitamin-D-Suffizienz), betrug 54,7%, 80,8% und 83,3% respektive. In allen drei Gruppen sank das Parathormon etwa gleich stark ab. Beim primären Endpunkt, der Bewertung im SPBB, konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den drei Gruppen festgestellt werden. Bei einer Testkomponente, dem 5-maligen Aufstehen aus einem Stuhl, schnitten die Teilnehmer der Hochdosis- und Kombinations-Gruppe jedoch überraschenderweise schlechter ab, als die Probanden der Kontroll-Gruppe. Auch bei den Stürzen zeigte sich ein höheres Risiko in der Hochdosis- und Kombinations-Gruppe: 66,9% und 66,1% vs. 47,9% in der Kontroll-Gruppe (p = 0,048). Für eine dosisabhängige Erhöhung des Sturzrisikos spricht auch die Tatsache, dass Probanden mit 25(OH)D-Spiegeln in der obersten Quartile (> 44,7 ng/ml) auch das höchste Sturzrisiko hatten (Relatives Risiko: 5,5; p < 0,001). Die Züricher Forscher fanden also Hinweise darauf, dass hohe VD-Supplementierung und hohe 25(OH)D-Serumspiegel das Sturzrisiko bei älteren, nicht hospitalisierten Menschen steigern. Eine plausible pathophysiologische Erklärung für die Beobachtungen geben die Autoren nicht. Sie verweisen aber auf ein australisches RCT aus dem Jahre 2010 mit ähnlichem Ergebnis (11). In dieser Studie erhielten 2.256 ältere, nicht hospitalisierte Frauen mindestens drei Jahre lang jeweils vor den Wintermonaten 500.000 IE VD3 (entspr. 1370 IE/d) oder Plazebo. Auch in dieser Studie wurden unter hoch dosiertem VD mehr Stürze registriert: 837 Frauen/2892 Stürze (entspr. 83,4 pro 100 Personenjahre) vs. 769 Frauen/2512 Stürze mit Plazebo (entspr. 72,7 pro 100 Personenjahre). Das berechnete relative Risiko (RR) mit VD betrug 1,15 (95%-Konfidenzintervall = CI: 1,02-1,30). Darüber hinaus erlitten die Frauen in der VD-Gruppe auch häufiger Frakturen (171 vs. 135: RR: 1,26; CI: 1,00-1,59). Vor diesem Hintergrund und da die VD-Substitition in der Kontroll-Gruppe bereits den derzeitigen Empfehlungen entsprach, ist es schade, dass in der Züricher Studie kein Plazeboarm mitgeführt wurde. Denn somit bleibt die Frage unbeantwortet, ob VD-Supplementierung bei älteren Menschen ohne spezifisches Risiko (wie z.B. ausgeprägter VD-Mangel, Heimbewohner, geringe Sonnenexposition oder geringe VD-Aufnahme mit der Nahrung) im Hinblick auf Sturzneigung und Frakturen überhaupt ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis hat. Fazit: Der Nutzen einer regelmäßigen längeren Einnahme von Vitamin-D-Präparaten bei älteren, nicht hospitalisierten Menschen ohne ausgeprägten Vitamin-D-Mangel muss in Frage gestellt werden. Insbesondere eine hohe Supplementierung (> 800-1000 IE/d) scheint das Sturz- und Frakturrisiko zu erhöhen und hat wahrscheinlich ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis (vgl. 12). Kürzlich hatten wir auch darüber berichtet, dass Messungen von 25(OH)D bei gesunden Frauen nach der Menopause, die sich normal ernähren und außerhalb des Hauses bewegen, überflüssig sind (13). Literatur
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